Wer bin ich, wer bist du —jetzt? Trennung und Scheidung als Krise der Identität

Die Identity Card hält Vor- und Zunamen fest, Geburtstag, Geburtsort, früher noch ein unveränderliches Kennzeichen. Das ist schon was, aber nicht genug. Ich bin mehr. Denn meine Geschichte kann auf keiner Kennkarte stehen.

Unsere Identität

Was mir zugewachsen oder zugestoßen ist, die Krisen und die Gewinne, gekentertes Boot oder Schiffbruch — und ich hab mich schwimmend an Land gerettet: Das hat mich geformt und aufgebaut, es gehört zu meiner Identität.

Freilich, uns fällt zu schnell das Dauernde in uns ein, wenn wir »Identität« hören: die Seele, das Herz, wie man früher sagte, oder auch die Person, von der die Philosophen und Theologen gern reden, oder die Persönlichkeit, ein Lieblingswort Goethes, oder das Selbst, wie C. G. Jung sagt, der wieder ganz etwas anderes damit meint. Alle Ausdrücke wollen einen Kern umschreiben, der bleibt, wo doch die Welt um uns sich so rasant ändert und verwirrt.

Aber schon Erik H. Erikson (1902-1994), der das Wort »Identität« so prominent gemacht hat, ist nicht vom unerschüttert Überdauernden ausgegangen, sondern von den Krisen des Aufwachsens und Älterwerdens, in denen sich allerdings etwas durchhalten sollte. Zum Beispiel wollte er in der Beziehung von Mutter und Kind auch die Spannungen sehen, nicht nur das Haltgebende. Nicht nur die Kontinuität der Person, die ausgereifte feste Persönlichkeit ist wichtig, sondern auch der Weg dazu, die Umwege, das Sich-Verlaufen, die Abstürze, das Nicht-mehr-weiter-Wissen. Da allerdings erhebt sich die Frage, was denn in den Brüchen ganz bleibt oder ganz wird. Ein chassidischer Meister sagt: »Kein ganzeres Ding als ein zerbrochenes Herz«. Wie bauen wir eigene Schuld und Versagen, Schmerz, Verletzungen und Verkrüppelungen in die Lebensgeschichte ein? »Kritische Lebensereignisse«, wie die moderne Psychologie recht nüchtern sagt, gibt es viele, Krisen also, die ein Leben durchschütteln, manchmal auch zerbrechen.

Trennungen und Scheidungen

Vornan stehen hier sicherlich Trennungen und Scheidungen, heute überwältigend häufig. Wenn es nicht gerade tödlich ausgeht (Suizide sind dabei nicht selten, auch Morde, aber auch Obdachlosigkeit oder Alkoholismus), wird es doch in vielen Fällen ein Leben, vielleicht auch zwei, einschneidend verändern. Ich habe in 25 Jahren Eheberatung viele Schicksale mitverfolgt. Aber was bedeutet das schon, wenn man vom sicheren Ufer aus ein Schiff scheitern sieht? Immerhin, es langt zu einem Anstoß fürs Nachdenken. Wenn ich erzähle, dann um Sie zum Nachdenken zu verführen.

- Frau N., fast 50, zwei nahezu erwachsene Söhne, muss eines Sonntags morgens von ihrem

Mann hören, dass er sich scheiden lassen will. Sie war ahnungslos. Sie macht einen Suizidversuch, sucht dann Hilfe bei einer Eheberaterin, die sie aber nicht recht erreicht. Sie fängt zu trinken an, um zu vergessen. Sie kommt irgendwie, mehr schlecht als recht, über die Scheidung und die nächsten Jahre weg, bis sie in einer therapeutischen Gruppe Halt findet. Sie baut sich ein neues Leben auf, auch beruflich, sie kann wieder leben.

Offenbar hat ein harter Schlag das langweilig gewordene »Hausfrauendasein« aufgesprengt. Es hat sehr weh getan. Das Leben wechselt man nicht wie ein Hemd. Es hat gerüttelt und geschüttelt, dass man nicht wissen konnte, wie es ausgeht. Kann man am Schluss sagen, was Halt und Richtung gegeben hat? Gewiss lässt sich sagen, dass hier eine falsche (oder falsch gewordene) Form des Lebens zerbrochen ist, um eine ehrlichere herauszuholen. Wir lernen die strenge Gnade zu schätzen, die einen Knochen erst bricht, um ihn danach besser einzurichten.

  • Hans L. hat eben die Trennung von seiner Frau hinter sich, ist aus der gemeinsamen Wohnung ausgezogen, hat alles gut regeln können einschließlich der Besuchszeiten für die fünfjährige Tochter. Auf einer Party lernt er eine junge Kollegin kennen. Sie verlieben sich und ziehen zusammen. Er ist es leid, allein herumzuhängen, kein geregeltes Zuhause zu haben. Das Selbstwertgefühl kann eine Aufwertung vertragen. Aber in unbewachten Augenblicken, wenn er müde wird oder beim Einschlafen, holt die Erinnerung ihn ein. Es ist, als ob seine Frau ihm sagte: »Hans, du läufst ja vor dir selber davon! « Er versucht, den Gedanken wegzuschieben. Aber der Gedanke bohrt zäh weiter.
    Was passiert hier? Dass es Konflikte gibt, dass gestritten wird, braucht niemanden zu wundern. Die einfachste Lösung, nämlich den Partner zu wechseln, bringt nichts. Die eigenen Gewohnheiten bleiben ja. Sich selber unangetastet zu lassen, seinen »Charakter« zu wahren, Recht zu behalten, auch wenn vieles zu Bruch geht, erscheint manchen als das Bequemste. Sich in Frage stellen zu lassen, an sich zu arbeiten und eine Veränderung in Gang zu setzen, würde Energie kosten. Wenn er so bleibt, wie er immer war, wird die vergehende Zeit ihn zu seinen Ungunsten verändern, ohne dass er es merkt. Identität ist ja nichts zum Haben, höchstens zum Anzielen, so wie du den Polarstern nicht haben kannst, wohl dich aber nach ihm richten kannst. Wenn er seine Identität gewinnen will, muss er die Wandlung des Lebens zulassen, ja in Gang setzen oder dankbar sein, dass ihm andere was abfordern.
  • Walter S., erfolgreicher Unternehmer, etwa 40, erlebt, dass seine Ehe auf der Kippe steht. Seine Frau, gute fünf Jahre jünger, kann mit ihm nichts mehr anfangen, vor allem sexuell. Sie hat auch eine Beziehung zu einem anderen Mann gehabt, kann sich aber doch nicht von ihm lösen. Er weiß, dass er sie lange zu sehr als die Jüngere, als Kind fast genommen hat. Ihm gelingt es nicht, aus der zugeschriebenen Rolle auszubrechen. Die Mechanismen des Miteinanderlebens sind in 15 Jahren Ehe zu gut eingespielt und nicht leicht zu verändern. Walter S. liebt seine Frau, ist auch bereit zu sehen, dass er nicht gern die Macht abgibt. Er nimmt viel in Kauf, auch sexuelle Entbehrungen. Oft ist er drauf und dran, sich ein Mädchen anzulachen. Aber er weiß, was er will. Er wartet und versucht, seiner Frau die Initiative zuzuspielen und ihr damit das Sagen zuzugestehen. Er findet mehr zu sich, fragt, wer er selber eigentlich ist, was er kann, was er sich wünscht, was er geben kann.
    Walter S. hat kapiert, dass es in menschlichen Beziehungen nicht ohne Geduld geht. Das schnelle Hinschmeißen und Nicht-mehr-mögen klagt den anderen an, lässt ihm keine Zeit, definiert ihn in die Verteidigungs-Position. Freilich, Walter S. darf sich nicht aufgeben, er wird vielleicht eine neue Entschiedenheit lernen. Es kann sein, dass er irgendwann doch »Schluss jetzt!« sagen und sich unter Schmerzen loslösen muss, mit Zorn auch. Es würde darin klar werden, dass er nicht mit sich spielen lässt.

Bei einer Heirat geht oft alles glatt, erst bei einer Trennung, oder schon bei ernsteren Konflikten, holpert es. Du kommst an deine Grenze. Du beginnst, anders nach dir und den Beziehungen zu fragen, in denen du stehst und die viel von dir ausmachen. Die Chance liegt darin, dass du den Impuls spürst, das Signal für dich. Du bist gefragt und musst eine Antwort suchen. Darin kommst du dir selber auf die Spur.

Lorenz Wachinger